Blinder Passagier

Wenn der Mensch von heute reist, dann nicht etwa beschaulich in – sagen wir: 80 Tagen um die Welt; sondern eher gehetzt wie ein Brudermörder auf der Flucht. Die Rakete dieser Enthemmung wurde an jenem denkwürdigen Tag gezündet, an dem der wie in Marmor gehauene Satz des britischen Physikers Lord Kelvin: „Eisen kann nicht fliegen“ zur Lachnummer zerbröselte. Heutzutage platzen an beinahe jedem Fleck der Erde täglich Flugzeuge auf wie heiße Blutwürste. Heraus quillt Menschenmasse und kullert quecksilbrig noch in die entlegensten Ecken. Einmal hin, einmal her – schon hat man die jährliche CO2-Bilanz von Somalia auf seinem persönlichen Konto. Aber wir wollen keine Spielverderber sein! Im Lexikon berühmter Reisender wie Phileas Fogg oder Dr. Livingston muss ein neuer Name eingestanzt werden: Ein Teenager ist an einem US-Airport in den Radkasten einer Boeing 767 geklettert. Ein 15-jähriger Ausreißer in den USA hat einen fünfeinhalbstündigen Flug im Radschacht einer Boeing 767 vom kalifornischen San José auf die Hawaii-Insel Maui überlebt. Dabei ist nach Expertenmeinung jedem Menschen der Tod gewiss, der dem geringen Luftdruck und Sauerstoffmangel in 10.000 Meter Höhe und einer Kälte von unter minus 50 Grad Celsius ausgesetzt ist. Man vermutet, der nur leicht bekleidete Junge sei in eine Art lebensrettenden Winterschlaf gefallen. Wir sagen: Respekt – aber lieber ein Jahr Sibirien ohne Hosen. Trotzdem finden wir – in einer Zeit, in der man in fünf Stunden beinah überall sein kann, ist der größte Luxus friedlich im Bett zu dösen.

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Kolumnen. Bookmarken: Permanent-Link. Momentan ist weder das Kommentieren noch das Setzen eines Trackbacks möglich.

  • Kategorien

  • Archive