Frühstart

Im Allgemeinen darf man sich schon glücklich schätzen, wenn man für seine schlechte Laune einen guten Grund findet. Insofern durfte mancher Zeitgenosse erwartungsvoll rumorend dem Augenblick entgegen fiebern, den manche als eine Art alljährliches kulturelles Tunguska-Ereignis erleben: Nämlich dem ersten Schokoladen-Weihnachtsmann im Discounter-Regal – obwohl und während draußen der Nachsommer noch letzte Süße in die Trauben schickt. Eine jahreszeitliche Mesalliance, ungefähr so passgenau wie die Eheschließung zwischen einem Pferd und einem Fisch. Die Bahn kommt zu spät, der Nikolaus stets zu früh. Alljährlich versuchen ihn – jenen ersten Schoko-Mann – allerlei Nörgler wütend zu verbellen. Mit denen machen jedenfalls wir uns nicht gemein. Statt mit dem allgemeinen Lamento hierüber mitzujaulen, versuchen wir heute mal, die Sache vom Grauen Star der Allgemeinen Meinung zu befreien. Denn was wäre, wenn hinter dieser verfrühten Weihnachtsdekoration nicht etwa raffgierige, merkantile Ambition steht. Sondern hier womöglich ein tief dem ursprünglich amorphen Werkstoff Schokolade innewohnender Formwille sich ausdrückt, der sich alljährlich ab Oktober des Menschen bedient, um in Weihnachtsmanngestalt gegossen zu werden, ab Februar aber von kundigen Händen in Osterhasen-Fasson geprägt werden will? Für den sehr unwahrscheinlichen Fall, dass wir Sie nicht von unserer Sicht der Dinge überzeugen konnten: Tauschen Sie in Ihrer Fantasie einmal einfach den Schokoladen-Nikolaus im Regal mit dem Anblick des ersten Krokus im Frühling – über den freut sich auch jeder!

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