Schlafes Bruder

Endlich – die Meldung zum Lied: Atemlos durch die Nacht zu strumseln ist für den 89-jährigen  Mehmet İnanç Routine. Der türkische Rentner behauptet, er habe seit 50 Jahren nicht geschlafen. Ein medizinisches Wunder, kreischen die einen. Eine Schlafwahrnehmungsstörung, deuten Wissenschaftler. Der ruhelos Greis jedenfalls behauptet: „Schlaf ist eine Sucht!“ Was den Verdacht nährt, infolge der Übermüdung zerfließe sein Urteilsvermögen wie ein überreifer Camembert. Denn Schlaf ist ein ungeheuer vornehmes, zugleich sinnliches Vergnügen! Nichts Schön’res unter der Sonne, als nach ein paar prachtvollen Wechseln zwischen REM- und Tiefschlafphasen mit granatapfelrot getönten Bäckchen und dem triumphierenden Gefühl des Ausgeschlafenseins dem Lager zu entschlüpfen. Schlaf ist eine harmlose und kostenfreie Lustbarkeit, bei der kein Dritter zu Schaden kommt. (Zumal man nur im Traum ungestraft ohne Unterhosen über belebte Marktplätze schlendern kann.) Schwer zu verstehen also, warum „Langschläfer“ immer noch als Schimpfwort gilt. Denn wer täglich zur Unzeit vom Knüppel eines Weckers roh aus dem Schlummer geprügelt wird wie ein dünnbeiniges Eselchen mit struppigem Fell, hat irgendwann Tränensäcke wie Horst Tappert nach fünf atemlosen Nächten, dazu eine bratengitterartig gefurchte Stirn á la Helmut Kohl. Kurz: fürchterliche Verwüstungen graben sich  unübersehbar in Gesichter wie minoische Keilschrift. Daher unser gutgemeinter Rat – roher Verzicht auf Schlaf ist auch wieder nur ein Exzess. Und wer nicht einschlafen kann, versucht einfach, seine IBAN-Nummer auswendig zu lernen.

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