Die unerträgliche Leichtigkeit des Turmsprungs

Was die Schwimm-EM und der Ingeborg-Bachmann-Preis eint

Ob Sie es nun glauben oder nicht – so eine Schwimmsport-EM in Budapest macht allen Beteiligten gleichermaßen zu schaffen: Den Sportlern, weil es ihre Aufgabe ist, mit unwiderstehlicher Gewalt vom Sprungbrett Richtung Stratosphäre abzuheben, um sich nach kurzem Flug dann doch nach unten zu schrauben und endlich spritzend dem Blick zu entschwinden; den Journalisten, weil sie während des Wettbewerbs stets die Schleusen der Superlative geöffnet halten müssen, ohne die Blessuren zu beklagen, die entstehen, wenn sie mit routiniert-kindlicher Freude an der Stacheldraht-Grenze des guten Geschmacks vorbei schrammen. Und zuletzt uns, denen fremde Goldmedaillen zwar Stimulans genug sind, um zu Fernseher, Radio oder Zeitung zu greifen – denen aber die delikate Raffinesse der meisten Schwimmsport-Wettbewerbe verborgen bleibt. Was wir damit meinen? Nun – welcher unschuldige Zuschauer freut sich beim Turmspringen nicht darüber, wenn’s im Becken „siedet und brauset und wallet und zischt, wie wenn Wasser mit Feuer sich mengt“ (Schiller). Und doch reiben wir uns am Ende immer erstaunt die Augen, wenn genau dieses melodramatische Eintauch-Spektakel Punktabzüge bringt, weil die Herren und Damen Kampfrichter ein möglichst aseptisches, spritzfreies Eintauchen zur obersten Norm erhoben haben. Überhaupt – im Kosmos seltsamer Wettbewerbe scheinen der nach Ingeborg Bachmann benannte Literaturpreis und die olympischen Sprungwettkämpfe in Sachen verstiegener Überspitzung manches gemein haben, das für die staunende Allgemeinheit unverständlich bleiben muss: Bereits die Unterscheidungen des „Wasserspringens“ in „Turmspringen“, „Kunstspringen“ und „Synchronspringen“ wirkt ein wenig überexzentrisch, zumal es da ja noch Sportschwimmen, Synchronschwimmen und Wasserball sowie Brustschwimmen, Rückenschwimmen, Schmetterlingsschwimmen, Freistil und Lagenschwimmen gibt. Offiziell würde das wohl keiner zugeben, aber wenn ein, zwei Disziplinen still gestrichen würden – nicht eine Menschenkette würde sich zu spontanem Protest zusammen finden! Aber bevor wir jetzt diejenigen unserer regelmäßigen Leser, die ausgewiesene Freunde jedweden Schwimmwettbewerbes sind, sich ins eiskalte Becken eines Loyalitätskonflikt gestürzt fühlen: Wir versichern feierlich, dass sich aufgrund dieser Kolumne im Schwimmsport nichts ändern wird. Wie sich auch sonst auf Kolumnen hin noch nie etwas geändert hat. Denn wenn wir eine nichtolympische Disziplin beherrschen – dann die hohe Kunst der Folgenlosigkeit.

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