Goodbye, Lenin

Das Gespenst des Kommunismus geht nicht um – es badet in einer teuren Marinade im Kreml

Es mag Menschen geben, die der Meinung sind, dass die unmenschlichste aller sexuellen Perversionen die Keuschheit ist. Aber Nekrophilie ist vielleicht die extravaganteste. Was das ist? Nun, beispielhaft sei hier der Fall eines gewissen Carl von Cosel (1877-1952) erzählt, eines zweifelhaften deutschstämmigen Mediziners, der in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine tuberkulosekranke kubanische Tänzerin heiratete, sie nach ihrem Tod aus dem Sarg stahl, den Leichnam in Formaldehyd einlegte, ihm ein Brautkleid anzog und jahrelang mit der Toten vergnügt in seiner Wohnung lebte. Wobei eine von v. Cosel umsichtig eingebaute Öffnung im Mumien-Unterleib wesentlich zu diesem Vergnügen beigetragen haben durfte. Das ist nun wirklich igitti-bäh! Aber – um auch den kleinsten Anschein einer geistvollen Überleitung zu vermeiden – was die Russen mit der Leiche von Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin (1870-1924) machen, ist auch nicht ganz gesund. Über eine Kopulations-Öffnung im Unterleib des seit 87 Jahren fürsorglich konservierten Revolutionsführers ist uns zwar nichts bekannt, aber die Russen sind, was Nekrophilie angeht, auch keine Unschuldslämmer! Mehrfach pro Jahr muss das welke Fleisch des alten Knaben ein Bad in geheimen Chemikalien nehmen, mehrmals wöchentlich untersucht ihn ein Dutzend Wissenschaftler. Durch all die Balsame ist Lenins Leib derart aggressiv, dass der Anzug, indem er aufgebahrt liegt, periodisch gewechselt werden muss. Erstaunlich daran ist, dass eben jetzt, wo manche im kreml-fernen Deutschland wieder über Kommunismus diskutieren, die russische Regierungspartei „Einiges Russland“ eine Internet-Umfrage zu Lenins Zukunft durchführen ließ. Demnach waren knapp 70 Prozent von rund 270 000 Menschen, die sich an der Diskussionsplattform mit der bezeichnenden Adresse goodbyelenin.ru beteiligten, dafür, den teuren Toten (die Konservierung soll jährlich um die 90 000 Euro kosten) zu beerdigen. Gut möglich, dass die meisten davon hoffen, man müsste diesen Lenin nur wie einen faulen Backenzahn aus der Höhle in der Kreml-Mauer herausdrehen, um das Gespenst des Kommunismus endgültig zu verscheuchen. Gleichwohl hat nun ein Sprecher der Kremlverwaltung mitgeteilt, Lenin bleibe weiter wo er ist, basta! Was anscheinend mit einer geheimen Nekrophilie in der russischen Seele nichts zu tun hat, sondern eher mit einem gesunden Sicherheitsbedürfnis: Denn wer umsichtig aufgebahrt und konserviert im Kreml liegt, der kann nicht heimlich wiederkommen.

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