Die Mutter aller Killerspiele

Hundertster Geburtstag: Eigentlich müsste des Deutschen Lieblingsspiel: „Mensch, ärgere dich!“ heißen.

Wenn der Deutsche sich wohl fühlt, schrieb Kurt Tucholsky, dann singt er nicht; dann spielt er Skat. Das galt zumindest bis zum Jahre 1910, als Josef Friedrich Schmidt ein Brettspiel auf den Markt warf, das seither wie eine Grippewelle zyklisch über die Lande schwappt: Jahr für Jahr wird „Mensch ärgere dich nicht“ etwa 100 000 mal verkauft; ein Umstand, der mit dem 100sten Geburtstag des Spiels die Bundespost zu einer Sonderbriefmarke veranlasste. Dabei ist der Zauber des Spiels zunächst schwer erklärbar, denn erstens spricht der ästhetische Eindruck gegen jeden Verdacht, ein Michelangelo könnte die Figuren dem spröden Plastik abgerungen haben; zweitens muss man kein Einstein sein, um die Regeln zu begreifen; es ist weder dekadent, faszinierend noch erotisch; die Magie liegt viel mehr im banalen Bösen, dass Brett nebst Figuren ausdünsten, denn das Gebot der Nächstenliebe gilt hier nichts oder noch weniger. Das vergegenwärtigen wir uns am besten mittels eines im kollektiven Gedächtnis abgespeicherten Höreindrucks: Jemand, dessen diverse Steinchen unter anderem fünf Felder hinter uns stehen, würfelt eine Fünf; sorgsam beginnt er die einzelnen Felder mit seiner Figur zu punktieren, das piano steigert sich zum forte, zuletzt mutiert Geräusch und Gestik zu einer Art Stechschritt, und endlich wird theatralisch, zugleich militärisch zackig, die Figur des Gegners vom Brett gefegt. Der Schmeissende mutiert dabei zum eiskalten Vollstrecker angeblichen Sachzwangs, er westerwellissiert sozusagen vorm Augen der Mitspieler. Diese Brutalität rührt von einer „optionalen“ Regel her, die Spiele-Schöpfer Schmidt nicht als Festlegung, aber als Möglichkeit mitgegeben hat – der Schmeiss-Zwang: Wer mehrere Figuren hat, muss (bei passender Augenzahl) die bewegen, mit der er einen Gegner raus schmeissen kann. Eine reine Option, wie erwähnt – aber wer jemals Mitspieler belehren wollte, dass man auch ohne Schmeiss-Zwang spielen kann, kennt die Bedeutung des Wortes „sinnlos“ in allen Nuancen: Genauso könnte man die FDP um eine Erhöhung von Hartz-IV bitten; oder in Rom den Verkehr regeln. Wahrscheinlich würde selbst der Dalai Lama unter Verweis auf angeblichen Sachzwang Mutter Theresa vom Spielfeld werfen. Und so wird heuer womöglich der Geburtstag des aller ersten Killerspiels gefeiert. Dennoch gratulieren wir höflich mit: Denn vielleicht wäre die Weltgeschichte seit 1910 noch katastrophaler verlaufen, hätte man sich nicht dann und wann bei „Mensch, ärgere dich nicht!“ abreagiert.

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