Opfer der Schamkultur

„Wenn wir es recht überdenken, so stecken wir doch alle nackt in unseren Kleidern“, schrieb Heinrich Heine. Wir riskieren unsern Guten Ruf, indem wir das Dichter-Genie verbessern: Wir stecken nicht einfach nur nackt in unsern Kleidern – unsere Nacktheit ist im Fass unsrer Kleider eingemaischt! Das erklärt jene Gärung im Kopf, jenes Säuern, Perlen, Blubbern, Schäumen, das alles Nackte darin auslöst. Die alten Germanen scherte dies kaum, sie trampelten gern in nonchalanter Nacktheit durch heiligen Eichenhain. Aber seit das spätantike Christentum unter Verweis auf Adam und Eva durchboxte, dass die Saat der Nacktheit stets als purpurrot leuchtende Scham aufzugehen habe, sind wir da schreckhaft. Und verbocken manchen Mumpitz: Erst müssen wir uns den Chef in Unterhosen vorstellen, um vor der Gehaltsverhandlung unser Ego zu blähen. Aber sitzt er uns tatsächlich so gegenüber, kreischen wir wie Besessene: „Sexuelle Belästigung!“. Wenn aber der Schlaf die Fackel des Verstandes auspustet und nur mehr das ewige Notlicht des Unterbewussten flackert, verurteilen uns Alpträume, nackt wie Gott uns schuf über belebte Marktplätze zu schleichen, von steter Angst vor Entdeckung gepeinigt. Wie die jüngste Meldung zeigt, hat es nun einen von uns erwischt: Ein nackter Schlafwandler hat Kaiserslautern aufgeschreckt. Der Mann war offenbar während eines Traums unbekleidet aus dem Haus gelaufen und erst durch die ins Schloss fallende Tür wieder wach geworden. In seiner Not hielt er ein Auto an und alarmierte die Polizei. Stoppen wir endlich solchen Wahnsinn – ziehen wir uns aus!

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