Rätselhafte Kunst

Zeitlos und nüchtern definiert, ist Kunst eine menschliche Ausdrucksform, bei der es darauf ankommt, das Unwichtige wegzulassen und im richtigen Moment aufzuhören. Jenseits davon aber führt sie zu Zank und Zerwürfnis, denn über Geschmack lässt sich inbrünstig stänkern. Über heutige Bildhauerei etwa wird gern gespöttelt, ihr Wesen bestehe darin, einen unbehauenen Klotz Holz aussehen zu lassen wie ein unbehauenen Klotz Holz. Unser heutiger Anlass, dem Musenross die Sporen der Kritik ins Weiche zu treiben? Mit dem Kommando: „Brillen ab und alle zusammenrücken!“ hat Aktionskünstler Spencer Tunick kürzlich in Münchens Innenstadt etwa 2000 rot und gold angemalte nackte Münchner zu einem aufgeregten Körpergewimmel modelliert. Offiziell soll das Happening Elemente aus Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ darstellen. Aber das muss einem – finden wir – schon gesagt werden. Sonst hält man den Auflauf leicht für die Ouvertüre zum drohenden Euro-Crash, wo uns Deutschen wahrscheinlich auch das letzte Hemd geraubt wird. Dank Lessing wissen wir, dass Kritiker sich stets ans Vorbild des Friseurs halten sollen: Nur den Nacken ausrasieren, nicht den Kopf abschlagen. Insofern sehen wir – von einer weiteren Meldung angeregt – durchaus die Vorteile von Tunicks Installation: Ein Unbekannter hat in New York ein Bild von Salvador Dalí gestohlen, indem er das 120 000 Euro geschätzte Werk „Cartel des Don Juan Tenorio“ einfach von der Wand nahm, mit dem Fahrstuhl nach unten fuhr und verschwand. Derlei kann, das geben wir gerne zu, mit einem Werk aus 2000 nackten Münchnern nicht passieren.

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