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Die Angst vorm Schaufenster
Wir gehen spazieren – und unsere Phobien laufen mit
Erfahrene Flaneure wissen – jenseits der gerade noch erträglichen einskommavier Kilometer schlägt beinahe jeder Stadtspaziergang rasch um in ein elendes Gescheuer. Um dessen spätere Nachwirkung so lind wie möglich zu halten, empfehlen die Koryphäen sinnlosen Umherwandelns, in konsequenten Intervallen ein Päuslein einzulegen statt stier weiter zu marschieren. Genau aus diesen kleinen Pausen aber schält sich unser heutiger Problemstoff heraus. Denn da erfahrene Flaneure ihre kleinen Rasten schönfärberisch als Interesse am Inhalt von Schaufenstern tarnen (es gibt tatsächlich die so genannte „Schaufensterkrankheit“), heutzutage aber zu viele dieser Schaufenster Apotheken gehören, hat man nach mehreren Stopps oft ganz glasige Augen vor Überinformation. Statt entspannt nach Hause zu kommen, betritt man seine Wohnung wieder als verstörter Hypochonder. Man ist bis zum Erbrechen gemästet mit Informationen über alle denkbaren Malaisen des menschlichen Leibes, man ist im wahrsten Sinne sattelfest in der heiklen Frage nach der aktuellsten Hämorrhoiden-Therapie, man ist unfreiwillig Experte in der Risiko-Abschätzung einer unbehandelten „Fistula in ano“. Kann man dem entgehen? Man könnte theoretisch, aber erstens gibt es zu viele Apotheken-Schaufenster, zweitens gehen sie gelegentlich über Eck – Flucht ist angesichts solch perfider Baugestaltungen für Flaneure utopisch: „Scheidenpilz?“ kreischt es einem in kaum verhüllter Begeisterung in meterbreiter Schrift aus der nächsten Etalage entgegen. Man müsste schon ein Gemüt aus Gusseisen haben, um diesen Anwurf zu überhören. Darunter prangt der fragende Gesichtsausdruck einer offenbar betroffenen Person, die aussieht, als wisse sie nicht, was die Rüben kosten. Solche Schock-Werbung ist riskant, denn wenn intime Details der weiblichen Natur derart rüde ins männliche Bewusstsein gerempelt werden, kann der ohnehin fragile Sinn des Mannes für die zarten Mysterien weiblicher Erotik dauernden Schaden nehmen. Die aber aktuell aufwühlendste Arzneiwerbung betrifft ein Medikament namens „Lasea“. Das Plakat dazu verspricht, dass „Lasea“ die Kraft habe, Angst vor Jobverlust, plötzlicher Armut, Beziehungs-Ende etc. lahm zu legen. Puuuh – gut gebrüllt! Aber selbst, wenn wir etwas skeptisch sind, geben wir gern zu, dass jene Pille zumindest eine Angst ganz sicher günstig beeinflusst – die Rendite-Angst der Pharma-Industrie. Wir Flaneure aber merken uns für künftige Spaziergänge – nicht alles, wogegen es Pillen gibt, ist eine Krankheit.